Sonntag, 28. Februar 2016

Essen ohne Autopilot

Inzwischen lese ich sogar den Begriff "Achtsamkeit beim Sex"... und befürchte, jetzt wird es zu einer bloßen Trend-Hülle verkommen.
Obwohl das Thema selbst bei körperlicher Liebe nicht fehl am Platz ist, denn Achtsamkeit ist ein ganzheitliches Konzept. Schließlich ist es möglich, ALLES achtsam zu tun.

Was ist denn aber überhaupt Achtsamkeit? 
Puh... Gemeint ist damit meist Achtsamkeit nach Kabat-Zinn, kurz gesagt:  
eine Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll, gegenwärtig und nicht wertend ist.  
Das Grundkonzept kommt aus der buddhistischen Tradition. Dr. Kabat-Zinn hat daraus "Mindfulness based stress reduction" (MBSR) entwickelt, eine Methode zur Stressbewältigung, die sich u.a. auch bei chronischen Schmerzzuständen als sehr wirksam erwiesen hat. Nichts rein Mystisches, nein, wissenschaftliche Erkenntnisse.
Kein Wunder also, dass das im Trend liegt - in Zeiten, in denen viele Menschen mit den Begleiterscheinungen der modernen beschleunigten, reizüberfluteten Welt kämpfen, und sich mehr und mehr gestresst fühlen. Mir jedenfalls hat ein MBSR-Seminar in einer völlig erschöpften Lebensphase sehr geholfen.

Was aber hat das jetzt mit dem Thema Ernährung zu tun?


Nach meinen positiven Erfahrungen mit dem Thema Achtsamkeit bin ich irgendwann dem Buch "Schlank durch Achtsamkeit" begegnet. "Ach was," hab ich gedacht und zugegriffen. Obwohl das bei näherer Überlegung eigentlich ein ziemlich schwachsinniger Titel ist. (Sorry...) Der Untertitel "Durch inneres Gleichgewicht zum Idealgewicht" ist zwar besser, aber auch nicht wirklich. Was ist denn das Idealgewicht? Wer bestimmt das? Der BMI? Der BAI (Body-Adiposity-Index)? 
Nee... Dass ich davon nichts halte ist klar. Idealgewicht nur wenn gemeint ist, dass ich mich dann "ideal" fühle. Aber die Idee, bewusster zu essen, daran bleibe ich immer wieder hängen.

Wie oft sind wir beim Essen zweitbeschäftigt? Nicht wirklich bei der Sache, weil der Fernseher läuft oder wir ein Auge auf Computer, Smartphone oder das Kleinkind haben? In Gedanken schon den Einkaufszettel schreiben, oder das nächste Telefonat führen? Wie oft erwische ich mich, dass ich bei der Arbeit esse, weil ich ja sonst nicht dazu komme...? Dass es bei so viel Ablenkung schwierig ist, wirklich präsent zu sein, mit allen Sinnen, ist klar.

Das was Essensanfänger noch tun - Essen mit dem Mund erforschen, mit der Zunge befühlen, den Duft aufsaugen, ewig im Mund zerkauen, zermatschen (und manchmal anschließend wieder aus dem Mund nehmen und betrachten oder befühlen), das machen wir Erwachsenen längst nicht mehr. Nicht nur der sozialen Konvention wegen. So viel Zeit nehmen wir uns schlicht gar nicht.

Nicht umsonst gibt es (immer noch) so viel Angebote bei Fast und Convenience Food. Fast Food geht zwar auch gesund, denn wie schnell ein Essen hergestellt wurde, sagt noch nicht zwangsläufig etwas über dessen Qualität. (Daher auch der neue Trendbegriff "Fast Good.") Wenn Fast Food jedoch heißt, dass man alles unachtsam und schnell, schnell in sich hinein schlingt, dann ist das auf Dauer definitiv ungesund.

Wie kann uns jetzt Achtsamkeit da helfen? 
Der klassische Einstieg in ein MBSR-Seminar ist das ganz bewusste, sehr langsame ESSEN einer Rosine. Für viele Teilnehmer eine völlig neue Erfahrung, die tatsächlich sogar Disziplin benötigt - den Impuls einfach zu schlucken, muss man da mehrfach unterdrücken.

Unsere Aufmerksamkeit ist oft beim ersten Bissen/Löffel noch da, und meistens auch beim letzten (wohl hauptsächlich weil wir wissen, dass es der letzte ist...) - aber den Mittelteil, den "verschlafen" wir oft völlig. Autopilot.
Deshalb kann es ein Augen-öffnendes Erlebnis sein, wenn man alle Sinne "einschaltet" und an das Essen heran geht, als wäre es die erste Rosine des Lebens.

"Es ist vielleicht weniger wichtig, was wir essen, als dass wir es bewusst tun. Wir sollten wieder spüren lernen, ob ein Lebensmittel uns gut tut oder nicht. Genießen wir unser Essen mit dem Wissen, wie viel Energie hineingewandert ist, die uns jetzt Kraft gibt." sagt auch der Schulmediziner Grönemeyer.

Achtsames Essen beinhaltet die Möglichkeit, dass alle sonstigen Gefühle, alle ungünstigen Mechanismen, die eigentlich nicht zum Essen gehören sollten, in den Hintergrund treten. Wenn ich mich voll auf das Erlebnis Essen einlasse, ist kein Platz für diesen Quatsch.
So ist es auch leichter, sinnvolle Entscheidungen zu treffen: bin ich satt, oder habe ich noch Hunger? Tut mir das Essen gut, oder spüre ich, dass ich es eigentlich nicht essen sollte? Einfach weil es keine Ablenkungen gibt, die diese Dinge überdecken.

Nein, das mache ich nicht jeden Tag. Aber es kann mir doch nur gut tun, mich immer wieder daran zu erinnern, mir Zeit zu nehmen - für mich, für meinen Körper, für mein Essen.

Sind nicht die Momente im Leben die schönsten, die wir mit allen Sinnen, in vollen Zügen genießen?
Bisschen kitschig, sagt der Koch. Ja. Aber auch wahr.


Quellen: Roland Pierre Schweppe "Schlank durch Achtsamkeit" - 5. Auflage, Dietrich Grönemeyer "Der kleine Medicus" - 3. Auflage 2005 (S. 177)

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